Mittwoch, 1. Dezember 2021

Notizen Dezember 2021

Notizen Dezember 2021




Stefan Zweig (1881 - 1942
)

Die Welt von Gestern (1942)
Ich muss zugeben, dass mich dieses Buch als Jugendlicher gelangweilt hat.
Damals, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts lebte ich, ähnlich wie Zweig in den letzten Jahren der Donaumonarchie in der beinahe dekadenten Gleichförmigkeit einer neuen Sicherheit...ja, wir existierten zwar im Angesicht einer Zweiteilung der Welt, wir lebten sogar mit der Gefahr der Auslöschung der Menschheit durch einen "nuklearen Holocaust", aber die weltpolitischen und nationalen Gefüge waren so stabil geworden, dass fast niemand die Möglichkeit der Katastrophe als real wahrnahm. Kaum jemand erwartete noch, dass die Sowjetunion die USA angreifen würde, von der sie ja mit lebensnotwendigem Getreide beliefert wurde oder, dass die Vereinigten Staaten dem Warschauer Pakt den Krieg erklären würde, mit dem sie dabei so gute Geschäfte machten. Die Auslöschung der Menschheit schwebte zwar über uns, die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens wurde aber ungefähr so beurteilt, wie der leidenschaftliche Zigarettenraucher die Möglichkeit seines Todes durch Lungenkrebs einschätzt.
In Westeuropa und im westlichen Mitteleuropa herrschte Wohlstand, soziale Sicherheit und Friede wie noch nie zuvor. Selbst der Klassenkampf schien in Ländern wie Österreich, der Schweiz oder Schweden obsolet geworden zu sein, da es eine ungeschriebene Übereinkunft gab, gemäß derer sich wohlhabende Menschen moderat bereicherten, im Gegenzug wurde ein Arbeits- und Sozialsystem aufgebaut, das jeder Staatsbürgerin und jedem Staatsbürger das finanzielle Auslangen ermöglichte, sofern diese auch nur über minimale Fähigkeiten verfügten oder die Bereitschaft zeigten, ein Minimum an Aufwand zu leisten. In Österreich wurde dieses System "Sozialpartnerschaft genannt". Soziale Abstiege und wirtschaftliche Schicksalsschläge existierten beinahe ausschließlich auf individueller Ebene, nicht als signifikant verbreitete soziale Phänomene. Leistungen des Gesundheitswesens und Bildung konnten kostenfrei bezogen werden, Menschen, die nicht zur Arbeit fähig oder willig waren, konnten mit Arbeitslosengeld auf unbeschränkte Zeit, manchmal bis an ihr Lebensende ein bescheidenes Auslangen finden.
Trotzdem herrschte in der (Jugend-) Kultur dieser Zeit eine gewisse Untergangsstimmung, der man in dekadenter "No Future" Manier gleichgültig, in Einzelfällen anarchistisch- destruktiv, manchmal aber engagiert begegnete - die Schreckensbilder, gegen die Jugendliche sich engagierten waren: Untergang der Menschheit durch (Atom-) Krieg, Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit oder technologische Katastrophen, aber all das konnte man in Europa bequem im Fernsehen von der weichen Couch konsumieren.
Außerhalb von Europa oder den wohlhabenden Bevölkerungsschichten Nordamerikas, schon 50 Kilometer entfernt, in den "Kommunistischen Staaten", hinter dem "Eisernen Vorhang" und erst recht in den armen Ländern Südamerikas, Afrikas oder Asiens, sah die Welt natürlich völlig anders aus. Aber auch diese Information, diese Bilder, konnte man in Europa recht behaglich in Fernsehen konsumieren.

Mit dem Untergang des politischen "Ostblocks" und der kommunistischen Staatssysteme sowie der technischen Evolution, und dort speziell der Revolution der Informationstechnologie, setzte eine Form der Globalisierung ein, die den inneren Zweck haben dürfte, diese Schieflage, diese letzte globale Ungerechtigkeit der bis an die völlige Recht- und Chancenlosigkeit grenzende Benachteiligung vieler Bürger der Staaten außerhalb Europas und Nordamerikas zu beseitigen. (Ähnliche Ungleichheiten bestanden in Westeuropa bis vor ca. 200 Jahren zwischen Adel und Nicht-Adel und bis vor etwa 100 Jahren zwischen Besitz (Bürgertum & Aristokratie) und besitzlosem Proletariat.)
In ihrer Übergangszeit entfaltet dieser Umbruch, der in den 1990er Jahren begonnen hat, eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik, die zwar innerhalb von Europa noch nicht die handfeste Dramatik der Weltkriege und der Zwischenkriegszeit erreicht hat, aber weltweit betrachtet bringt sie noch größere Umwälzungen mit noch größerer Geschwindigkeit mit sich, als alle Zeiten der Veränderung zuvor.

Und speziell vor diesem Hintergrund ist dieses Buch, das Zweig im Angesicht seiner völligen Entwurzelung, die er in diesem reißenden Sog erleiden musste, in den letzten Monaten vor seinem Selbstmord im Exil geschrieben hat, heute so wieder so aktuell und meines Erachtens für Menschen auf der ganzen Welt relevant - für Europäer ebenso sehr wie für Bürgerinnen oder Bürger Indiens, Chinas, des Iran oder Ghanas ...