Samstag, 9. September 2017

Notizen September 2017



Roger Martin du Gard (1881 - 1958)

Sommer 1914 (1935-1936)

Nachdem ich von Les Thibaults, einem Buch, das ich vor ca. 30 Jahren antiquarisch gekauft habe, die Bücher 1 - 6 im Winter 2014/15 gelesen habe (http://magicosblog.blogspot.co.at/2015/02/), mit dem monumentalen Sommer 1914/Epilog begonnen.

Die ersten Kapitel mit der detaillierten Schilderung der Diskussionen des sozialistischen Zirkels etwas mühsam...vielleicht auch, weil ich eine Aversion gegen selbstgefällige Revolutionäre habe, doch mit der Wiederaufnahme des Handlungsstrangs, der in Paris lokalisiert ist, wieder im Bann Du Gards...ich denke, dass das Werk im deutschsprachigen Raum so gut wie nicht mehr gelesen wird. Ich besitze genau diese Ausgabe aus dem Wiener Paul Szolnay Verlag aus dem Jahr 1951


Speziell in den Kapiteln 15 und 17 sind überaus interessante Gedanken zum bevorstehenden Weltkrieg (15) sowie zum Spannungsfeld von Kapitalismus und Sozialismus in den Diskussionen zwiscchen dem bürgerlichen Antoine und seinem revolutionären Bruder Jaques dargestellt.
Speziell die Gedanken zum Kapitalismus wirken heute, etwas einhundert Jahre später, beunruhigend aktuell...verblüffend ist folgende Passage, wenn man an die jüngste Wahl zum amerikanischen Präsidenten Trump und die Gerüchte rund um Manipulationen über Social Media aus Russland denkt: 

"Weiß du denn was für Summen der russische Geheimfonds an unsere Presse für die Kriegspropaganda in Frankreich anweist, weißt du, dass diese Millionen Rubel, die dazu dienen, die französische öffentliche Meinung zu kaufen, nicht bloß mit der zynischen Zustimmung der französischen Regierung ausgegeben werden, sondern daß sie an dieser Ausgabe tätig und täglich mitschuldig ist?"

Bin bei erneuter Auseinandersetzung mit Rilke auf seine überdeutlich antidemokratischen und prä-faschistischen Aussagen gestoßen...hätte er noch 20 Jahre länger gelebt, hätte er wohl einen eindeutigen Weg eingeschlagen.
Wieder wurde mir bewusst wie nahe viele der Denker, die ich am höchsten schätze dem Nationalsozialismus standen...z.B. Schadewaldt, Liebrucks, Heintel, ...die Grenze zwischen Zwang, Opportunismus und Überzeugung ist hier genau zu betrachen - sofern das heute noch möglich ist. Liebrucks scheint sich vorerst wohl nur dem Zwang gebeugt zu haben und hat aufgrund opositioneller Umtriebe dann auch Sanktionen zu spüren bekommen - wenn auch harmlose...Heintel scheint reiner Opportunist gewesen zusein, bei Schadewaldt bin ich mir nicht so sicher...


Schnell assoziiert fallen als verbindende geistesgeschichtliche Elemente bei den genannten Nietzsche, Antikes Denken, Hölderlin ein...ganz ähnlichwie bei Heidegger, der politisch wohl eindeutiger Stellung bezog, dessen Gedanken ich allerdings auch philosophisch in keiner Weise nachvollziehen kann.

Rilkes Sprachkunst muss jedenfalls unbestritten bleiben...

Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)

1. Duineser Elegie (1912)

WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts

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als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen

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wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgendein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich

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wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.
O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,

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sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
Ach, sie verdecken sich nur miteinander ihr Los.
Weißt du’s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel

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die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche
Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob

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sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorüberkamst am geöffneten Fenster,

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gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag.
Aber bewältigtest du’s? Warst du nicht immer
noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles
eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen,
da doch die großen fremden Gedanken bei dir

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aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.)
Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange
noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.
Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du
so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn’

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immer von neuem die nie zu erreichende Preisung;
denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm
nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt.
Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur
in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,

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dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa
denn genügend gedacht, daß irgendein Mädchen,
dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel
dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen

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fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur

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Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf

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aufhob vom Boden; sie aber knieten,
Unmögliche, weiter und achtetens nicht:
so waren sie hörend. Nicht daß du Gottes ertrügest
die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,

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die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.
Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir.
Wo immer du eintratst, redete nicht in Kirchen
zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an?
Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf,

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wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.
Was sie mir wollen? Leise soll ich des Unrechts
Anschein abtun, der ihrer Geister
reine Bewegung manchmal ein wenig behindert.

Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen,

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kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben,
Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen
nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben;
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen,
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen

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wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam,
alles, was sich bezog, so lose im Raume
flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam
und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig

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Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen
alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden.
Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter
Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung

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reißt durch beide Bereiche alle Alter

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immer mit sich und übertönt sie in beiden.

Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten,
man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten
milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft

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seliger Fortschritt entspringt –: könnten wir sein ohne sie?
Ist die Sage umsonst, daß einst in der Klage um Linos
wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang,
daß erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling
plötzlich für immer enttrat, die Leere in jene

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Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.



Frrsken der Martinskapelle Bregenz (~1350-1497)

http://wh1350.at/de/literatur-und-quellen/die-fresken-der-kapelle-vom-martinsberg-vlbg/