Donnerstag, 10. Juni 2021

Notizen Juni 2021

Notizen Juni 2021



Thomas Pynchon (*1937)

Bleeding Edge (2013)
Die endlosen "Mysterien von Paris" vorübergehend zur Seite gelegt und mit Bleeding Edge begonnen. Wieder einmal hin und hergerissen. So viel Alltagsschrott stößt mich ab - und schon 8 Jahre nach der Erstveröffentlichung und 20 Jahre nach 2001, dem Zeitpunkt der fiktiven Handlung, sind so viele Begriffe irrelevant, gar nicht mehr in Gebrauch, oft auch schon vergessen ... da bleibt  stellenweise das Gefühl der "irrelevanten Nostalgie" zurück, das sich einstellt, wenn man in alten Zeitschriften oder Lifestyle Magazinen blättert - ich weiß, das ist Pynchons Programm und wird als seine "postmoderne" Eigenart gepriesen, es "gibt keine Wahrheit", es gib keine kontextfreien oder gar überhistorischen bedeutungsvollen Inhalte. Insofern würde jede Kritik an diesem Punkt ins Leere gehen, so als ob man an einen Gemälde des abstrakten Expressionismus den Mangel eines erkennbaren Gegenstands kritisiert.
Ein wohlwollender Kritiker hat bei Erscheinen zu dieser augenscheinlichen Eigenart des Werks angemerkt: "Pynchon demonstrates how quickly the present becomes the unremembered past." Das erscheint korrekt - dennoch: Hätte sich Ovid, Wolfram von Eschenbach, Boccaccio oder sogar Thomas Mann in derartiger Breite in Details gewälzt, wäre die Lektüre ihrer Werke heute unerträglich oder sogar unmöglich.
Welchen Sinn hat es zum Beispiel über "Larry Ellisons" Segelboote zu schreiben, wenn kaum mehr ein Leser weiß, was das soll? 
Viele Abschnitte erscheinen heute so schal wie "Lifestyle Passagen" bei Bret Easton Ellis.

Und die Darstellung der "Reisen ins Deep Web" klingen fast so unfreiwillig komisch wie die Darstellung des "Internet 2021" im Film Johnny Mnemonic aus dem Jahr 1995.
Nein, ich bleibe dabei: niemand geht "im Internet spazieren" ... da sind und bleiben Text, Bilder und Videos. Nur, weil es auch VR gibt, ist eine Recherche "im Internet" keine Heldenreise in der Erscheinungsform von Spielen wie Doom. Das ist einfach lächerlich. Solche Darstellungen gestehe ich nicht einmal Künstlern aufgrund ihrer viel gepriesenen künstlerischen Freiheit zu - das klingt eher so wie Kinder, die absurde Vorstellungen von Sachverhalten haben, die sie noch nicht verstehen. Pynchons Darstellung des Deep Web klingt so wie die Erörterung eines fünfjährigen Kindes über das Kinder-Zeugen und -Kriegen.
Trotz alldem immer wieder unterhaltsam, ja, mehr als das, diese absurde Abfolge von Szenen, wie man sie aus Noir Krimis und Agententhrillern kennt, entwickelt immer wieder einen Sog, dem sich der Leser fast nicht entziehen kann - bis dann wieder die seltsamen Abenteuer einer New Yorker Mutter zu sehr an TV Serien der 2000er Jahre erinnern. Ein Aspekt, der wohl eher für gut geschulte Konsumenten amerikanischer Unterhaltungssendungen amüsant sein dürfte...Stellenweise wirken die Erlebnisse der "Privatdetektiv-Mutter" wie ein Traum Woody Allens im Drogenrausch.
Erfrischend an Bleeding Edge ist jedenfalls die Herangehensweise an dieses historische Ereignis, diese  Behandlung des traumatischen 11. September ganz ohne Pathos - sowohl im Individuellen als auch im gesellschaftlichen, nationalen Kontext der USA. Die Hauptakteurin Maxine erlebt das Geschehen "nur" in den Medien...ein überaus geschickter und geschmackvoller Zug.
Nach ungefähr zwei Drittel des Romans, mit Kapitel 30 scheint Pynchon dann hinter dem Vorhang hervorzutreten, mit einer Beschreibung der Reaktion des "offiziellen" Amerika auf die Ereignisse der 11. September, die so klingt als entspringt sie nicht den Gedanken der Akteurin Maxine, sondern den Überzeugungen des Verfassers.
Am glaubwürdigsten und am meisten authentisch erscheint Pynchons kritische Stimme aus dem Mund Ernies, Maxines Vaters - nicht zuletzt, weil dieser etwa in Pynchons Alter sein dürfte.
Bestimmt nicht Pynchons bestes Werk. 

Reprehensible ideas don’t disappear if you make them illegal, by driving them under the carpet you might feed them, or make them taboo ... I’d rather know the racist in the room.
Salman Rushdie 
(debate on the freedom of speech at the Dalkey Book Festival, 21.07.2014)